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Sönke hat 100.000 Seemeilen Erfahrung im Kielwasser und von 2007 bis 2010 zusammen mit seiner Frau Judith die Welt umsegelt. Er veranstaltet diverse Seminare auf Bootsmessen (siehe unter Termine) und ist Autor der Bücher "Blauwassersegeln kompakt", "1200 Tage Samstag" und "Auszeit unter Segeln". Sönke ist zudem der Gründer von BLAUWASSER.DE und regelmäßig mit seiner Frau Judith und seinen Kindern auf der Gib'Sea 106 - HIPPOPOTAMUS - unterwegs.
Ozeansegeln: Himmel. Horizont. Herausforderung
Mal wieder Ozean. Seefahrt. Seeluft. Seegang. Gleich geht es los. Die Segel sind angeschlagen, der Proviant verstaut, das Schiff ist seeklar. Der Atlantik kann kommen. Himmel. Horizont. Herausforderung.
Wir sind zu zweit. Marga ist die Eignerin einer Yacht vom Typ Contest 36S mit dem klangvollen Namen GITANA, die Zigeunerin. Ich bin Mitsegler. Wir kennen uns schon ewig – aus der Sandkiste, wie man so sagt. Vor zwei Tagen bin ich auf der kanarischen Insel El Hierro im Südwesten des Archipels mit dem Flugzeug gelandet. Mein Rückflug soll in zwölf Tagen von der Insel Sal im Nordosten der Kapverden erfolgen. Dazwischen liegen etwa eine Woche Nonstop-Segeln und rund 750 Seemeilen Ozeanwasser. Blau. Blauer. Blauwasser.
Ich bin ein wenig aufgeregt, frage mich, wie die kommenden Tage werden. Eigentlich müsste ich es wissen, es liegen schon etliche Ozeanpassagen und eine Weltumsegelung in meinem Kielwasser – in Summe über 100.000 Seemeilen. Daher weiß ich aber auch, dass jeder Törn anders ist. Wir haben uns eine leichte Strecke ausgesucht. Von den Kanaren zu den Kapverden. Segeln auf der Barfußroute. Nicht durch die brüllenden Vierziger oder um Kap Hoorn herum. Wozu auch? Ich muss mir nichts beweisen. Und trotzdem: Der Ozean hat unendlich viele Seiten. Es kann da draußen alles geben – von himmelhochjauchzend bis zu Tode betrübt. Egal auf welcher Strecke.
Ozeansegeln: Die Vorbereitung ist wichtig!
Beim Ozeansegeln hilft es, gut vorbereitet zu sein. Marga und die GITANA sind es. Da bin ich mir sicher. Sie hat die Yacht vor vier Jahren im Mittelmeer übernommen und sie einhand nach Hamburg überführt. Dort wurde GITANA umfangreich und gewissenhaft auf Langfahrt getrimmt – mit Autopilot, Windfahnensteuerung, Windgenerator, Solarmodulen, Bimini, Passatsegeln, Radar, Rettungsinsel, EPIRB und Satellitenkommunikation. Es folgten eine große Ostseerunde und Törns entlang der europäischen Küsten, bis Marga die Kanaren erreichte. Inzwischen hat sie 10.000 Seemeilen Erfahrung mit dem Boot. Das ist gut. Das schafft Vertrauen.
Der Ozeantörn beginnt auf den Kanaren
Wir lösen die Leinen und verlassen die Marina Puerto de La Estaca an der Ostseite von El Hierro. Böen mit bis zu dreißig Knoten ballern einschüchternd von den kargen Lavahängen, die das Inselbild prägen, herab. Der Atlantik ist mit weißen Schaumkronen überzogen. Die Wellenhöhe liegt bei zwei bis drei Metern. „Da jetzt raus? Echt jetzt?“, wäre eine nachvollziehbare Frage.
Ja. Wir wollen da raus. Die rauen Bedingungen sind ein lokales Kanaren-Phänomen, das sich nach einigen Seemeilen legen wird. Die Kanaren sind nun mal eine Wetterküche und jetzt im Sommer weht der vom Azorenhoch angetriebene Passatwind am stärksten. Den Rest erledigt die Topografie der acht bis zu fast viertausend Meter hohen Inseln. Sie wirbeln alles durcheinander, stehen Wind und Welle im Weg.
Wir haben Ende August. Windtechnisch also kein optimaler Zeitpunkt für die Abfahrt von den Kanaren, wohl aber einer für die Überfahrt. Die Wettervorhersage spricht weiter südlich von durchgängig 15 bis 25 Knoten Wind aus Nordost bei zwei Meter See. Wir wollen nach Südsüdwest. Perfekte Bedingungen für die Überfahrt – nur eben nicht für den Start. Sonst starten Yachten zu längeren Überfahrten hier später im Jahr. Eher im Oktober oder November. Dann sind die Bedingungen moderater. Dann lässt der Passat etwas nach. Dann ist die See ruhiger.
Ozeansegeln: Am Anfang steht die Eingewöhnung
Die ersten Stunden auf See bringen die Erkenntnis, dass die See stärker ist, als uns lieb ist. GITANA rollt wild in einer sich kreuzenden Dünung hin und her, wird zum Spielball der bis zu drei Meter hohen Wellen. Vor meinem inneren Auge sehe ich vier Männer, die eine viereckige blaue Plane schütteln. An jeder Ecke steht einer. Leider schüttelt jeder, wie er will, ohne Abstimmung mit den anderen und ohne Takt. Wir befinden uns im Zentrum der Plane.
An Deck können wir uns einigermaßen sicher bewegen, aber unter Deck haben wir Schwierigkeiten, uns in der rollenden See auf den Beinen zu halten, ohne gegen Schotten, Türen, Sitzbänke oder Wände zu fallen. Am besten kommt jeder von uns im Liegen oder Sitzen zurecht. Entweder auf der Cockpitbank oder im Salon auf der Koje. Das hilft gegen Unwohlsein und erleichtert das Eingewöhnen.
„Hexenkessel Kanaren“, denke ich, während ich mich im Cockpit bei Anbruch der Nacht mit einem Kissen in einer Ecke einkeile. Immerhin: Es fliegt keine Gischt und die Temperatur ist mit 30 Grad Celsius angenehm warm. Aber so möchte ich auf keinen Fall die nächsten Tage weitersegeln. Alles wird zum Kraftakt. Sich festhalten, sich ernähren, sich motivieren. Wir werden träge, müssen uns zu jedem Handgriff überreden: insbesondere zum Essen und Trinken: Schokoriegel, Bananen, Kekse, Wasser und Cola. Kochen fällt aus. Alle Viertelstunde rafft sich einer von uns auf und macht einen Rundumblick. Andere Schiffe sehen wir nicht.
Ein Sprichwort sagt: „Die See kennt keine Gnade“. Stimmt. Hier kommt keiner und nimmt mich auf den Arm. Hier spielt der Ozean sprichwörtlich „gnadenlos“ mit seinen Muskeln. Hier muss ich da durch. Warum tue ich mir das freiwillig an?
Ich tue mir das freiwillig an, weil ich es will! Weil ich raus möchte aus meiner Komfortzone. Weil ich es vermisse, weil ich Ozean möchte. Außerdem weiß ich, dass es mit jeder Seemeile besser werden wird. Je weiter wir nach Süden kommen, desto mehr wird sich der Körper an die Umgebung gewöhnt haben und desto gleichmäßiger und ruhiger werden die Wellen werden. Einzig, dass dieser Effekt seit Stunden ausbleibt, verunsichert mich. Bin ich aus der Übung? Habe ich die Wetterprognose falsch eingeschätzt?
Ozeansegeln: Langsam entsteht eine Bordroutine
Die Nacht ist sternenklar und bringt in den Morgenstunden endlich die ersehnte Ruhe ins Schiff. GITANA rollt zwar immer noch, aber gleichmäßiger. Im Licht der ersten Sonne ist zu erkennen, dass die See länger geworden ist, die Kreuzsee verschwunden ist. Die Männer mit der blauen Plane haben sich synchronisiert, sie haben einen Takt gefunden.
Einmal mehr bestätigt sich eine Erkenntnis, die ich schon sehr oft erlebt habe. Beim Ozeansegeln kommt meistens erst der Kater und dann der Rausch. Soll heißen: Wer die Schönheit des Ozeansegelns erleben will, muss erstmal über einen, mitunter sehr lästigen, Berg klettern, auf dessen Rückseite das Schöne wartet. Auf dem Weg zum Gipfel lauern die Seekrankheit, das Unbekannte, das Unbehagliche und nicht selten auch der Respekt vor der Distanz bis hin zur Angst, sich überschätzt zu haben.
Wir haben den Gipfel nach 100 Seemeilen erreicht. 100 Seemeilen! Das mag abschreckend lang klingen. Bezogen auf das Gesamtziel ist das jedoch nur ein Bruchteil der Strecke beziehungsweise der Reisezeit. Für den Ostseesegler hingegen ist das vermutlich eine sehr große Zahl. Während ich darüber nachdenke, kreuzt in einiger Entfernung der Frachter ZELLA OLDENDORF unseren Weg. Auf dem AIS lese ich als Zielhafen Hamburg ab. Ein Stück weit entfernte „Heimat“ ist plötzlich ganz nah.
Ozeansegeln ist anders als Ostseesegeln
Ich kenne viele Segler, die davon träumen, einmal im Leben über einen Ozean zu segeln, wären da nicht die Dauer und die Distanz. Wer diesen Spagat im Kopf überspringen möchte, muss verstehen, dass Ozeansegeln komplett anders funktioniert als Ostseesegeln. Gar nicht so sehr wegen der um ein Vielfaches längeren Strecke – das auch –, sondern wegen der anderen Herangehens- und Denkweise.
Auf der Ostsee steht das Segeln im Vordergrund. Es geht um Sport und Spaß. Alltägliche Dinge wie die Nahrungsaufnahme oder das Schlafen stehen im Hintergrund. Sie werden in der Regel auf den Hafen verschoben. Bei einer Ozeanpassage ist es genau andersherum. Hier steht der Alltag im Vordergrund und das Segeln im Hintergrund. Wenn wir Hunger bekommen, machen wir uns etwas zu Essen, und wenn wir müde sind, legen wir uns in die Koje. Dreht der Wind so stark, dass die Passatsegel nicht mehr funktionieren, wird erstmal nur der Kurs angepasst und überprüft, ob der Winddreher nachhaltig ist. Eine Regatta gewinnt man so nicht, aber das ist auch nicht das Ziel. Kurzum: Gesegelt wird nebenbei. Es ist Mittel zum Zweck der Fortbewegung – mehr nicht. Eine Ozeanüberquerung ist somit kein x-fach längerer Tagestörn, sondern eine komplett andere Art des Lebens an Bord. Wer das verinnerlicht, hat nicht nur einen kürzeren Weg zum angesprochenen Gipfel, sondern schafft überhaupt erst die Möglichkeit, die schöne Seite des lästigen Berges zu entdecken.
Ozeansegeln: Wellen, Wind und ganz viel Weite
Unser blauer Alltag funktioniert gut. Er steht klar im Vordergrund, das Segeln im Hintergrund. Wir haben uns eingelebt. Wellen kommen. Wellen gehen. Die Passatsegel sind seit 250 Seemeilen oben, ziehen uns südwärts. Hinter dem Heck die Kanaren. Vor dem Bug die Kapverden. An Backbord Afrika und an Steuerbord Amerika. Zu sehen ist davon nichts. Stattdessen blauer Himmel. Blaues Wasser. Weiße Passatwindwolken. Und ein Horizont in alle Himmelsrichtungen. Spontan dichte ich:
Ein Stück vom Meer.
Ganz blau, ganz leicht.
Nicht grau, nicht schwer.
So schön. So seicht.
Und: Soweit das Auge reicht.
Auch das ist ein Teil der Schönheit des Ozeansegelns – diese unglaubliche Weite. Insbesondere, wenn die Bedingungen stimmen und der Ozean seine milde Seite zeigt, ist die See ein guter Ort, über die eigenen Ziele im Leben nachzudenken und Erlebtes zu reflektieren. Da sieht man rundherum den Horizont – eine Linie, die im Alltag oft verstellt ist. Sie in alle vier Himmelsrichtungen zu sehen, schafft Freiheit im Kopf. Nicht selten kommt es daher vor, dass ich stundenlang die Aussicht auf das Wasser genieße. Dabei setzt bei mir eine tiefe innere Zufriedenheit ein.
In der dritten Nacht auf See haben wir die Hälfte der Strecke im Kielwasser. GITANA läuft. Das Sumlog meldet fast sieben Knoten. Die See rauscht beruhigend und es ist angenehm tropisch warm. Am Firmament thront ein gigantischer Sternenhimmel samt Jupiter, Mars und Venus. Es sind Tausende Lichtpunkte, die da über dem Schiff im Takt der gleichmäßig dahinrollenden Atlantikdünung tanzen. Es ist so dunkel hier draußen, dass die Milchstraße problemlos zu erkennen ist und fluoreszierendes Plankton Schaumkronen und Kielwasser magisch grün leuchten lässt. Marga schläft. Ich liege auf der Cockpitbank, schaue in die Sterne und fühle mich gleichzeitig frei, klein und glücklich.
So zu segeln setzt voraus, dass man mit dem Wesentlichen zufrieden ist. Etwa ein Dach über dem Kopf und etwas zu Essen zu haben. Das klingt nach arg wenig. Vielmehr ist es aber auch nicht. Ich ergänze das rudimentäre Setup gerne um gute Bücher, gute Musik und ab und an einen guten Film. Wird das langweilig? Ich finde nein. Irgendwas ist immer zu tun. Kurs optimieren, Segel wechseln, Rigg checken, Sachen reparieren, Essen zubereiten und ganz viel schlafen, abschalten und erholen. Einfach in die Ferne sehen, zufrieden sein und die Gegenwart genießen. Es ist ein intensives Hier und Jetzt ohne Verpflichtungen. Solange die Segel stehen und wir eine gute Zeit haben, ist alles andere egal. Einfach und unkompliziert. Ich genieße es, dabei offline zu sein. Klar, wir senden täglich unsere Position und rufen Wetter ab. Aber ansonsten dreht die Welt sich gerade ganz wunderbar ohne unser Zutun weiter. Für mich ist das ein Geschenk.
Am vierten Tag auf See stehen bereits drei Etmale (Distanz in 24 Stunden) im Logbuch: 131, 145 und 159 Seemeilen. Das sind Zahlen für das Logbuch. Zahlen für die Statistik. Aber auch Zahlen, die irgendwie egal sind, weil die Zeit für uns mittlerweile vollends verschwommen ist. Wochentage gibt es nicht mehr und Uhrzeiten sind wertlos. Der Körper lebt mit dem Rhythmus der Natur, getriggert von Sonnenauf- und -untergang. Insbesondere die Wechsel zwischen Tag und Nacht gehören mit zu den schönsten Momenten auf See. Wenn der warmrote Ball im Meer versinkt und die Nacht sich wie eine Käseglocke über unser segelndes Elf-Meter-Reich stülpt, sitzen wir ergriffen im Cockpit und bestaunen das Spektakel von Sonne, Wolken, Meer und Licht. Dann beginnt das Gehirn die Erinnerung an die anfänglichen Strapazen der Überfahrt zu löschen, sorgt für Versöhnung mit der See.
Während ein Tölpel über der tiefblauen See kreist, frage ich mich, ob Blauwassersegeln süchtig machen kann. Wenn die Bedingungen stimmen, denke ich das schon. Der Reiz liegt für mich in der geschilderten Einfachheit. Unsere Welt ist sehr komplex, aber um über einen Ozean zu segeln und ihn zu genießen, braucht es nicht viel. Das passende Wetter, das richtige Boot und die richtige Crew. Den Rest erledigt die Natur. Etwa, wenn sie einen der erwähnten wunderschönen Sonnenuntergänge an den Himmel zaubert. Er funktioniert ohne Bedienungsanleitung, ohne WLAN und ohne Ladegerät. Ohne Eintritt, ohne Anstehen, ohne Verabredung. Er ist einfach da. Jeden Tag aufs Neue und jeden Tag anders schön. Wir müssen nur hinsehen – bis irgendwann das Wetter umschlägt und der Wind die Gelassenheit mit Regen und Wellen beiseite fegt. Jeder Rausch ist nur auf Zeit und die See hat viele Gesichter. Die Herausforderung besteht darin, zu wissen, wann sie welches aufsetzt.
Und so gab es in meinem intensiven Segelleben auch schon genug Tage auf See, wo ich bereut habe, überhaupt dort zu sein. Aber auch das ist eine Erkenntnis beim Ozeansegeln. Nirgendwo sonst liegen Hochs und Tiefs so dicht beieinander wie mitten auf einem Ozean. Damit meine ich weniger das Wetter als das persönliche Empfinden. Eben traumhafte Bedingungen und kurz darauf muss ein Sturm abgewettert werden. Damit umzugehen, ist nicht immer einfach. So manches Mal, wenn die Wolkenfetzen am Himmel hängen, alles grau ist, der Wind im Rigg pfeift und das Boot auf den Wellen hin und her geschubst wird, frage ich mich, was Menschen eigentlich daran finden, Ozeane zu überqueren. In so einem Moment wünsche ich mir oftmals nichts sehnlicher als das Ankommen. Der Landfall ist einer der größten Glücksmomente. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, die lange Seestrecke bezwungen zu haben. Man muss es erleben, um es zu verstehen.
In tristen wie in schönen Momenten auf See hilft es, eine gute Crew zu sein, ein Team zu sein. Ein Team, in dem beide autark und auf Augenhöhe das Schiff führen können. Das ist wichtig. Das schafft Vertrauen. Bei Marga habe ich dieses Vertrauen. Dafür kenne ich sie schon lange genug. Sie ist besonnen vorsichtig und entscheidungsfreudig selbstbewusst. Deshalb verfolgen wir auch kein starres Wachsystem. Wir schlafen abwechselnd auf Zuruf und kommen bestens damit klar. Wir fühlen uns wie zwei Einhandsegler in einer Wohngemeinschaft. Vieler Worte bedarf es nicht.
Die Wettervorhersage, die wir regelmäßig über Satellitenkommunikation mit dem Iridium-Go-Modem und der Handy-App PredictWind Offshore erhalten, bestätigt die Prognose von den Kanaren. So ist es schlussendlich eine vom Rückenwind getriebene, schnelle Segelreise. Ich danke innerlich dem Azorenhoch! Noch 222 Seemeilen. Schnapszahl! Sal, wir kommen!
Am vorletzten Tag geht es aus zwei verschiedenen Gründen an Bord ungewohnt hektisch zu. Erstens: Wir bauen die Segel um. Unser Ziel peilt mittlerweile 30 Grad versetzt und wir wollen wieder auf Kurs. Nach vier Tagen haben die Passatsegel ausgedient. Das fliegende Vorsegel geht runter, das Großsegel hoch. Und zweitens: Die Angel ist draußen und die Fische beißen. Zwei, wenn auch kleine, Mahi Mahi wandern an Deck. Reinholen, ausnehmen, filetieren und ab in den Kühlschrank damit. Noch 150 Seemeilen.
Weitere Seemeilen liegen voraus, ziehen vorbei, bleiben zurück. Stück für Stück geht es weiter südwärts. Stück für Stück wird die Entfernung zum Ziel kleiner. Kann man einen Elefanten essen? Ja, jeden Tag ein kleines Stück, sagt ein Sprichwort. Während ich unter dem wolkenbetupften Atlantikhimmel darüber nachdenke, umweht mich plötzlich ein wohliger Duft. Marga backt Waffeln. Auch das ist eine Eigenheit langer Seestrecken. Sie schärfen die Sinne, lassen alles intensiver wirken. Mein Blick schweift und ich sehe tiefblaues Wasser, meine Ohren hören kräftiges Rauschen, mein Körper spürt schwungvolle Wellen, meine Zunge schmeckt salzige Luft und ich rieche leckere Waffeln. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und einmal mehr machen sich Glücksgefühle breit, so verführerisch ist der Duft in diesem Geruchs-Geschmacks-Gefühls-Klang-Bild.
In der letzten Nacht auf See – es sind noch 75 Seemeilen bis zum Ziel – entdecke ich ein Flugzeug hoch oben am Himmel. Stoisch gleichmäßig blitzt sein rotes Licht zwischen den Sternen auf, verkündet die aufkommende Nähe zur Zivilisation. „Guck mal, Marga, ein Flugzeug“, sage ich. „Lieber nicht drüber nachdenken“, lautet ihre Antwort, „die brauchen nur zwei Stunden für die Strecke, die wir hier abreißen.“
Unsere Raum-Zeit-Gedanken werden durchbrochen, weil plötzlich etwas betörend Schönes passiert. Delfine! Sie prusten lautstark, spielen ausgelassen mit dem Bug. Theoretisch wären sie bei der uns umhüllenden Dunkelheit nicht zu sehen. Praktisch werden sie vom fluoreszierenden Plankton in der See erleuchtet. Wie Torpedos fräsen ihre Körper eine neongrüne Spur durch die See. Wahnsinn, was die Natur sich alles ausdenkt.
Und dann sind sie da. Erst nur vage, dann immer deutlicher. Erst dunstig unscharf, dann greifbar klar: die Umrisse der Insel Sal! Land in Sicht nach langer Zeit auf See. In meinem Kopf zieht eine Mischung aus Erschöpfung, Stolz und Glück ein, als der Anker in den Sand der Bucht von Palmeira fällt. Im Logbuch notiert Marga 746 Seemeilen. Dauer: 5 Tage und 5 Stunden. Schnitt: 6 Knoten.
Auf einmal sind die anfänglichen Strapazen und so manche Entbehrung vergessen. Wir haben den Kater gemeistert und dafür schlussendlich den Rausch bekommen – mit fröhlichen Delfinen, tropischen Temperaturen, idealen Segelbedingungen, traumhaften Sonnenuntergängen, beeindruckenden Wolkenschauspielen, sternklaren Nächten und einer faszinierenden Weitsicht. Ozean kann so schön sein, wenn man sich drauf einlässt und es wagt. Er wird mir fehlen. Danke, dass ich dabei sein durfte.
“…frage ich mich, ob Blauwassersegeln süchtig machen kann..?.” ja genau so ist es. Schön und einfühlsam geschrieben. Hut ab!
Ich habe ab A Caruna die Diretissima nach Sao Miguel bei fast gleichen, allerdings länger andauernden, kräftigen Bedingungen (894 Nm) in knapp 7 Tagen gesegelt. Ebenfalls mit einer Contest aus der Hand von Dick Zaal, einer 38s Ketch. Wahrlich tolle und verlässlich seegängige Schiffe. Diese Seite des Atlantiks hat einfach einen besonderen Reiz. Für mich braucht es keine Karibik.
Cran Canaria – Cap Verde 10.11.2005 25.11.2005 Wf, Stm, Nav 1000 Sm
Leonardo Gib Sea 43
War eine anspuchsvolle Überstellung. Wir besuchten auch einige Insel….sowie eine Rundfahrt mit Joseph.
Mit einem Hacken – angekommen in Mindelo: Euer Flug ist gestrichen.
Nach 4 Tagen endlich wir können mit “Inselhüpfen” Heimfliegen.
Nach 19 Std. über Poldugal in Wien gelandet.
Hallo Sönke,
Deine Beschreibung der Verhältnisse und der inneren Befindlichkeiten trifft derart perfekt den Kern – Hut ab. Das ist auch für jeden Nicht-Segler sicherlich eine sehr nachvollziehbare Beschreibung, was das Segeln im Allgemeinen und das Ozeansegeln (Blauwassersegeln) im Besonderen ausmacht. Und genau diese Gedanken befallen mich regelmäßig auch bei etwas kleineren Schlägen, die ich als Einhandsegler in mehreren Monaten aneinander reihe.
Ich bedanke mich bei Dir für diesen wunderbaren Beitrag und die Pflege der Seite blauwasser.de.
Beste Grüße aus Griechenland beim Warten auf einen Gast für die nächsten zwei Wochen, Andreas
Vielen lieben Dank für diesen wunderbaren Bericht, der einen sehr realen Einblick in das Seelenleben bringt. Wir sind nur Ostseesegler und haben für 2025 ab April vor, ein Boot von den Kanaren nach D zurück zu segeln. Erfahrung gleich null, aber voller Tatendrang. Wir lesen seit einigen Monaten sehr viel in Blauwasser und sind begeistert.