Atlantiküberquerung: 22 Tage Digital Detox auf hoher See

Ein Beitrag von

Felix Hackenberg

Felix Hackenberg hat die Cybersicherheitsbranche hinter sich gelassen, um seinen Traum von der Weltumsegelung zu leben. Er ist als Skipper, Ausbilder und Organisator von Ausbildungs- und Seemeilentörns sowie Atlantiküberquerungen für die Berliner Skipper-Akademie FluxAhoi tätig. Zudem bietet er Yachtüberführungen an. Er lebt dauerhaft auf seinem Katamaran in der Karibik und nimmt gegen Bezahlung Gäste mit.

Vom Crewmitglied zum Skipper einer Atlantiküberquerung

Meine liebe Tante kennt mich und meine Vorliebe für Reisen, fremde Länder und Abenteuer. Seit einigen Jahren auch für das Segeln. Als ich an einem Septembernachmittag in Berlin mit ihr im Auto sitze, verschlägt der Anruf, den ich bekomme, trotzdem uns beiden die Sprache: „Was machst du im Oktober?“, meldet sich mein Freund Wahid unverblümt am Telefon. „Nichts Außergewöhnliches“, antworte ich nichtsahnend und wahrheitsgemäß, und ergänze: „Arbeiten und so eben. Wieso?“

Wahid und ich lernten uns 2021 als Crewmitglieder auf einem Überführungstörn unter außergewöhnlichen Umständen intensiv kennen. Damals galt es, eine gebrauchte, aber durch den neuen Eigner frisch erworbene Contest 43 aus der Nähe von Amsterdam nach Italien zu überführen – durch den Englischen Kanal, die Biskaya, entlang der Atlantikküste, rund Gibraltar und zuletzt über Mallorca. Außergewöhnlich waren daran der Skipper und seine Schiffsführung – denn obwohl Wahid und ich Grünschnäbel waren, spürten wir durch gesunden Menschenverstand, dass hier gegen alle Prinzipien der guten Seemannschaft verstoßen wurde. Mehrmals auf diesem Trip konnten wir Schlimmeres nur knapp verhindern und lernten uns auf diesen 2.400 Seemeilen in vier Wochen sehr gut kennen.

Autor Felix Hackenbart beim Schwimmen mitten auf dem Atlantik – ein Traum, geht in Erfüllung. ©Felix Hackenberg

Einen Sportküstenschifferschein (SKS), einen Sportseeschifferschein (SSS), den Yachtmaster Offshore und viele Tausend Seemeilen später ist Wahid nicht mehr nur Crewmitglied, sondern selbst Skipper. „Könntest du dir vorstellen, mich auf einem Überführungstörn als Co-Skipper zu begleiten?“, erkundigt er sich am Telefon bei mir. Ein werftneuer Lagoon 42 Katamaran müsse beim Hersteller in Les Sables D´Olonne an der französischen Atlantikküste abgeholt und in die Karibik, genauer gesagt auf die britischen Jungferninseln (British Virgin Islands, BVI), überführt werden. Da es sich nicht um einen gewöhnlichen Chartertörn handelt, sondern um eine Atlantiküberquerung, steht es dem Skipper frei, sich für die Planung und Durchführung der Überführung Unterstützung in Form eines Co-Skippers an Bord zu holen.

Im Sonnenuntergang einmal kurz ums Boot schwimmen. Nicht ganz ungefährlich – aber unvergesslich. ©Felix Hackenberg

Entscheidung zur Atlantiküberquerung: Kurs Karibik!

Schon immer reizte mich die Disziplin des Fahrtensegeln. Endlose Weite, Unabhängigkeit und das Schrumpfen der ganzen Welt auf lediglich genau das, was das Auge bis zum Horizont erblicken kann. Schon oft, so auch kurz vor diesem Anruf durch Wahid, verbrachte ich Stunden im Internet und schwelgte in Angeboten und Gesuchen für Ozeanpassagen. Dass Wahid mich in Betracht zieht, ihn zu unterstützen und zu begleiten, freut und ehrt mich ganz aufrichtig und ich versichere ihm prompt, dass ich vorbehaltlich der zu klärenden Urlaubstage und familiären Angelegenheiten dabei bin. „Was war denn das für ein Anruf?“, fragt meine Tante neben mir im Auto mit einer Mischung aus Neugier und Belustigung. „Ich wurde gefragt, ob ich eine Yacht in die Karibik liefern will.“ Wie lange so etwas dauern würde und ob man auf der Reise oft in Häfen anlegt, erkundigt sie sich. „Tja, das müssten so drei bis vier Wochen sein – und zwar nonstop“, gebe ich bereitwillig Auskunft – und spüre mich dabei breit grinsen.

Der Plan der Ozeanüberquerung nimmt Gestalt an

Das Glück ist mir treu und ich kann alle notwendigen Arrangements machen, auch dank der Unterstützung des Segelclubs Spandau, dessen Kameraden mir anbieten, sich um das Auskranen unseres Bootes zu kümmern. Nach einigem Hin und Her bei der Auslieferung der Yacht steht der Törnplan. Der dann mehrmals wieder über den Haufen geworfen wird, bis es Ende November, mit vier Wochen Verspätung, schließlich losgehen kann.

Auf der Barfußroute nach Westen

Um den Atlantik auf der Barfußroute zu überqueren, bietet es sich an, zunächst nach Süden zu segeln, bis man auf den Passatwindgürtel trifft, der einen dann mit einem stetigen und warmen Ostwind wie von selbst in die Karibik schiebt. Der Passatwindgürtel ist nicht zu verfehlen, wenn man nach Süden segelt, bis die Butter zu schmelzen beginnt und sich der Wind stetig aus Ost durchsetzt. Da wir allerdings einen GPS-fähigen Kartenplotter an Bord haben, sparen wir die wertvolle (und im Laufe des Törns heiß umkämpfte) Butter auf und peilen den ersten Wegpunkt bei 20 Grad Nord 025 Grad West an. Diese etwas südlichere, bogenförmige Route ist zwar bis zu 200 Seemeilen länger als die direkte Route von den Kanaren in die Karibik, führt aber schneller in den Passatwindgürtel und damit zu stetigen Winden. Zudem bietet die südlichere Route den Vorteil, nach ein paar Tagen den Hafen von Mindelo auf den Kapverdischen Inseln anlaufen zu können, falls sich während der ersten Tage des Törns größere Probleme ergeben sollten. Unser Plan jedoch sieht vor, die Kapverdischen Inseln in einem respektvollen Abstand von etwa 250 Seemeilen zu passieren und keinen Zwischenstopp einzulegen, sofern wir nicht müssen.

Auf einem Katamaran spielt sich das Leben im Cockpit ab – der Salontisch wird zum Navitisch umfunktioniert. ©Felix Hackenberg

Hurrikan-Saison und Wetterfenster

Durch die jährliche Hurrikan-Saison in der Karibik liegt das früheste sichere Abfahrtsfenster in Europa etwa Ende September. Wer früher lossegelt, riskiert, in die Ausläufer tropischer Wirbelstürme zu gelangen oder in der Karibik sein Schiff beim Abwettern eines ausgewachsenen Hurrikans zu verlieren. Der Passat ist ein mit den Jahreszeiten variierender Wind, der durch die Lage des Azorenhochs beeinflusst wird. Er schwankt zwischen dem 05. und 25. Breitengrad und weht von Ost nach West. Dank ihm gelangte Kolumbus nach Amerika. Historisch gesehen weht der Passat in den Monaten Dezember und Januar am konstantesten. Somit haben wir mit einer Abfahrt Ende November ein ideales Klimafenster und können uns mit der wetterabhängigen Routenplanung beschäftigen.

Vorbereitung, Eignung und Ausstattung

Um einen echten Blauwassertörn durchzuführen, müssen ausreichende Überlegungen zur Eignung, Ausstattung und dem Zustand der Yacht und ihrer Sicherheitsausrüstung, der Navigation und Proviantierung sowie der Erfahrung der Crew angestellt werden. Wen die technischen Einzelheiten nicht so genau interessieren, ermuntere ich direkt zum Punkt „Es wird ernst!“ zu springen!

Tipp der BLAUWASSER.DE-Redaktion: Eine ideale Vorbereitung bietet das Blauwasser-Seminar für angehende Langfahrer auf der Messe boot in Düsseldorf. Mehr dazu steht hier.

Ist die Yacht bereit für den Ozean?

Mit der Kategorie A („Ocean“) nach der europäischen Klassifizierung für Sportboote ist ein Katamaran vom Typ Lagoon 42 für den uneingeschränkten Einsatz im Hochseebereich vorgesehen und entsprechend zertifiziert worden. Die Yacht ist also grundsätzlich für eine Atlantiküberquerung geeignet. In vier Doppelkabinen mit jeweils eigenen Bädern haben insgesamt acht Personen Platz. Wie auf Katamaranen üblich, gibt es auf dem Brückendeck eine große Küche, mit geräumigem Salon und Außenbereich.

Bisweilen herrschen chaotische Zustände beim Verstauen des Proviants – das Obst findet seinen Platz an Deck. ©Felix Hackenberg

Energie, Wasser und Komfort an Bord

Viele Ausstattungsoptionen sind für einen Blauwassertörn wichtiger als für den normalen Charterbetrieb. Auf unserer Yacht PIRELLI wurden keine Wünsche offen gelassen, sie besitzt zwei 75-PS-starke Yanmar-Diesel-Motoren und es können bis zu 1.000 Liter Diesel in mehreren Tanks gebunkert werden. Beide Maschinen sowie ein dieselbetriebener Generator versorgen die Verbraucherbatterien (560 Ah) mit Energie, die tagsüber auch durch auf dem Dach montierte Solarpaneele gespeist werden. Die Stromversorgung ist insbesondere für den Autopilot wichtig, der einen wesentlichen Komfortfaktor darstellt.

Da sich die Frischwasserkapazität auf nur 300 Liter beläuft, ist eine Meerwasserentsalzungsanlage verbaut, die entweder mit 12 Volt oder 230 Volt betrieben werden kann und den Tank mit 60 Litern pro Stunde wieder auffüllt. Für unseren Törn weniger wichtig sind die verbauten Klimaanlagen und Heizungen.

Mit einer für Katamarane typischen Roll-Selbstwendefock und einem durchgelatteten Großsegel im Lazybag ist die Segelgarderobe eher einfach gehalten. Durch die bei Katamaranen weit nach hinten gezogenen Wanten lässt sich der Großbaum nicht annähernd so weit ausstellen wie auf den meisten anderen Booten, sodass eine Lagoon nur schlecht im Schmetterling vor dem Wind segeln kann.

Ohne Sicherheit kein Ozean

Die vorgeschriebene Sicherheitsausstattung setzt sich zusammen aus einer Rettungsinsel, Rettungswesten mit Lifebelts und Lifelines, den vorgeschriebenen Seenotsignalmitteln und einem DSC-fähigen Funkgerät, Feuerlöschern, Feuermeldern, Gasmeldern, Wantenschneider, Notruderpinne und Lenzpumpe. Zusätzlich wurden die Ausrüstung für den Törn erweitert um einen AIS-Transponder, ein DSC-Handfunkgerät mit eigener MMSI, ein Iridium-Satellitentelefon, eine umfangreiche Erste-Hilfe-Ausstattung und weitere Kleinigkeiten wie Druckverbände und Spritzen gegen Zahnschmerzen.

Der obligatorische Riggcheck vor der Abfahrt – auf den nächsten 3.000 Seemeilen darf nichts kaputtgehen. ©Felix Hackenberg

Technik trifft Tradition

Bei der Navigation verlassen wir uns zum größten Teil auf den verbauten Plotter. Als Backup wird auf zwei verschiedenen Tablets die Garmin-Navionics-App eingesetzt. Natürlich sind die Seekarten für alle geplanten Seegebiete auch in Papierform an Bord. Ein Sextant bietet die letzte Rückfallmöglichkeit, falls alle anderen Positionsbestimmungssysteme versagen. Wichtig dafür sind natürlich die umfangreichen Unterlagen zur Bedienung und vor allem die notwendigen Handbücher, wie das Nautische Jahrbuch 2024, ohne das eine Standortbestimmung nicht möglich wäre. Der AIS-Transponder soll uns und andere Verkehrsteilnehmer rechtzeitig aufeinander aufmerksam machen und zu nahe Begegnungen vermeiden. Und über das Iridium-Go!-Satellitentelefon versorgen wir uns täglich mit aktuellen Seewetterberichten.

Übung im Umgang mit dem Sextanten – gut, dass wir auch ein GPS-Gerät haben! ©Felix Hackenberg

Es wird ernst – Ankunft auf Teneriffa

Einen Tag vor der geplanten Ankunft der PIRELLI auf Teneriffa lande ich nach einem fünfstündigen Flug aus Berlin pünktlich in Teneriffa Süd (TFS). Teneriffa ist eine karge Insel, bestehend aus Kakteen, niedrigem Gestrüpp und rötlich-schwarzem, porösem Vulkangestein, das die Küsten und Strände schwarz erscheinen lässt. Denkbar deplatziert sieht der intensiv bewässerte und infolgedessen knallgrüne an die Marina angeschlossene Golfplatz aus. Wie vereinbart erreicht die PIRELLI die Marina am Folgetag und der Crewwechsel kann losgehen.

Kinderkrankheiten einer neuen Yacht

Auf der Strecke aus Frankreich sind Wahid einige Kinderkrankheiten an bei der PIRELLI aufgefallen, die es nun zu beheben gilt. Die Dirk wurde ohne Schäkel an die scharfkantige Baumnock angeschlagen und scheuert beinahe täglich durch. Außerdem sind die Reffleinen von äußerst minderwertiger Qualität (Polyester) und scheuern in den ersten zwei Wochen gleich mehrmals durch. Schuld daran ist auch der ungünstige Austritt der Leinen aus dem Baum am scharfkantigen Lümmelbeschlag. Wir tauschen alle Reffleinen aus und nehmen ausreichend Ersatz an Bord.

Das Downwindsegel der PIRELLI ist 140 Quadratmeter groß. ©Felix Hackenberg

Von der Charterbasis wird uns außerdem ein Downwindsegel zur Verfügung gestellt. Es ist ein ballonartiges Vorwindsegel, das einem Spinnaker mit einem „Fenster“ ähnelt, in dem ein gleitschirmartiger Kite steigt. Das Fenster ermöglicht es, Druck abzulassen und das Schiff nicht nur voranzutreiben, sondern dabei auch etwas aus dem Wasser zu heben. So ein Segel heißt Parasailor. Es kann bei stärkeren Winden ohne Spinnakerbaum und bei flexiblen, scheinbaren Windwinkeln von 180 bis etwa 90 Grad gesegelt werden. Auch wenn er bei „echten“ Regatta- und Spinnakerseglern bisweilen verpönt zu sein scheint, erfreut er sich unter Fahrten- und vor allem Passatwindseglern großer Beliebtheit.

Geliefert wird uns ein großer Karton. Darin befinden sich zwei Schoten, zwei Niederholer, drei Soft-Schäkel, das Segel und der Bergeschlauch. Schnell wird uns klar, dass die Person, die den Parasailor bestellt hat, offensichtlich nicht berücksichtigt hat, dass das Boot entsprechend vorbereitet sein muss. Daher verbringen wir die nächsten Tage damit, die richtigen Blöcke und Befestigungspunkte zu improvisieren, ein neues Fall durch den Mast zu ziehen, Barberholer zu besorgen und im Geiste die Leinenführung durchzugehen, bis uns alles passend erscheint.

Verproviantierung – Logistik für 24 Tage Ozean

Im Laufe des Tages finden sich unsere Mitsegler ein, die beiden Österreicher Konstantin und Daniel. Als Co-Skipper kümmere ich mich um die Planung der Verproviantierung und die Rezeptsammlung. In Excel habe ich dafür ein Hilfsmittel gebaut, das alle Rezepte für den jeweiligen Tag enthält und daraus die richtigen Mengen für unsere Einkaufsliste generiert. Ich plane mit einer Reisezeit von 24 Tagen und ein paar weiteren Tagen Notrationen. Jeder Mitsegler wird gebeten, sich einige Rezepte auszusuchen und die benötigten Zutaten und Mengen anzumelden. Auf der Einkaufsliste stehen am Ende 173 verschiedene Zutaten, die wir in mehreren Schüben aus unterschiedlichen Supermärkten besorgen. Darunter befinden sich 15 Kilogramm Kartoffeln, jeweils 100 Äpfel und Orangen, 7 Kilogramm Müsli und 9 Kilogramm Mehl. Da wir uns nicht von der Meerwasserentsalzungsanlage abhängig machen wollen, nehmen wir zusätzlich 460 Liter Trinkwasser in 8-Liter-Kanistern mit.

Die Crew startet gut vorbereitet – nicht nur mit Vorräten, sondern auch mit reichlich Diesel ©Felix Hackenberg

Über und über mit Lebensmitteln bepackt, stellen wir im Salon der PIRELLI verdutzt fest, dass sie so gut wie gar keine Schapps und Staufächer besitzt. Wir zählen zwar insgesamt vier Kühlschränke, aber nur zwei kleine Schapps im Boden. Notgedrungen muss jeder von uns die Schublade unter seinem Bett opfern und ein großer Teil wird zusätzlich auf den Fensterbänken und in Kühlschränken deponiert. Frische und lagerfähige Produkte werden an Deck in Netzen oder in luftigen Kisten verstaut – auch hierbei sollte man umsichtig vorgehen. Tomaten beispielsweise sondern bei der Reifung Ethylen ab, was in der Nähe gelagerte Früchte, wie beispielsweise Bananen, übermäßig schnell reifen lässt.

Angeln – Hoffnung versus Erfahrung

Schon mein ganzes Leben angle ich mit Leidenschaft, vor allem in fernen Ländern und Gewässern im Urlaub. So war für mich von vornherein klar, dass ich eine kleine Angelausrüstung einpacken werde. Tatsächlich bin ich aber meistens nur Angler – nicht Fischer. Denn Fische sind eben jenes Element, das trotz aller meiner Bemühungen allzu oft kein Bestandteil meiner Angelaktivitäten wird. Mit anderen Worten: Auf umfangreiche Erfahrung aufbauend, habe ich die Proviantliste in der Annahme geschrieben, mal wieder keinen einzigen Fisch zu fangen. In einem Angelladen im Nachbardorf erwerbe ich dennoch zu günstigen Konditionen eine geradezu lächerlich dicke Angelleine ohne Rolle und Rute, außerdem einige Köder, die in etwa die Abmessungen der sonst von mir erbeuteten Fische haben. Die Größe des Hakens lässt eher auf ein Hilfsmittel zur Personenbergung als auf eine Angel schließen.

Leinen los – Abschied vom WLAN

Nach einigen Tagen der Vorbereitung und bei besonders ungünstigem Südwestwind steht für uns fest, dass wir am 1. Dezember gegen Mittag auslaufen werden. Nach der Sicherheitsunterweisung und einem letzten Füllen aller Tanks geht es los. Gleich nachdem wir die Hafenmole umrunden, müssen wir auf unserem Weg gen Süden gegen unruhigen Schwell ankämpfen. Die PIRELLI stampft und schnell wird nicht nur mir, sondern auch einigen anderen Mitseglern schlecht. So verstreichen die letzten Stunden mit Handyempfang. Ein paar letzte WhatsApp-Nachrichten an die Liebsten, noch einmal E-Mails checken. Dann ist der Empfang weg. Ein merkwürdiges Gefühl, denn schließlich bin ich als Teil einer Generation aufgewachsen, in der Internet so selbstverständlich ist wie die Luft zum Atmen. Auch wenn ich es gewohnt bin, hin und wieder den Flugmodus zu aktivieren, war ich noch nie so lange völlig offline. Die Vorstellung, wochenlang ohne Internet zu sein, weckt eine unerwartete Neugier auf mich selbst und auf das, was kommt. Vielleicht, denke ich, ist dieser bevorstehende Digital Detox genau das, was ich brauche.

Selbstgebackenes Brot – mitten auf dem Ozean eine Delikatesse. ©Felix Hackenberg

Wir lernen das Boot und seine Segeleigenschaften kennen und machen uns mit dem Setzen und Bergen aller Segel vertraut. Wir testen die Leinenführung für den Parasailor und besprechen alle Manöver genau, bevor wir das Leichtwindsegel zum ersten Mal hochziehen. Beim ersten Versuch steht der Parasailor prall vor dem Schiff und zieht uns zuverlässig mit 50 Prozent der Windgeschwindigkeit durchs Wasser, bei nur 10 Knoten Wind. Er wird die nächsten Wochen für uns eine wirklich willkommene Ergänzung sein, die uns leise und komfortabel durch den Ozean zieht, nicht killt und nicht schlägt, keine Patenthalsen macht und nicht einmal den Blick auf den Sonnenuntergang versperrt.

Der Parasailor ist schön leise, gut zu trimmen und zieht uns Tag und Nacht über den Ozean. ©Felix Hackenberg

Schnell pendelt sich das Leben an Bord ein. Die Seekrankheit verschwindet bei allen noch am ersten Tag und wir genießen die Ruhe und das Meer. In erster Linie besteht jeder Tag aus den gleichen Komponenten: Nachtwache, Tagwache, kochen, essen und abwaschen. Die Zeiten dazwischen werden bei jedem auf eine andere Weise gefüllt. Lesen, Hörbücher oder Musik hören, für eine Prüfung lernen oder einfach nur sonnen. Es wird Backgammon gespielt und über Politik, die Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland, Gott und die Welt diskutiert. Die Stimmung ist gut und die Crew harmoniert ausgezeichnet. Bis zum Ende kommt es zu keinem einzigen Streit.

Ein neugieriger Delfin begleitet unsere Bugwelle, spielerisch und mühelos – als würde er uns auf dem Weg über den Atlantik grüßen. ©Felix Hackenberg

Begegnungen mit der Natur

Überraschend viel Abwechslung bieten das Meer und die Natur. Wir sichten regelmäßig Delfine, die mal mehr oder weniger lang an den Bügen der PIRELLI bleiben und uns ein Stück begleiten. Unterschiedlichste Vogelarten wie Sturmvögel und Möwen begegnen uns selbst mitten auf dem Ozean. Zweimal sichten wir Wale. Auch sonst quillt das Meer auf der gesamten Strecke vor Leben nahezu über. Es sind Mahi Mahis zu beobachten, riesige Schwärme von Tintenfischen bei Nacht, bei Tag fliegen abertausende fliegende Fische durch die Lüfte, die wir ab der ersten Sichtung an Tag fünf täglich sehen. Nach der halben Strecke sichten wir auch vermehrt Sargassum-Seegras und ab und zu auch darin lebende Fische. In mondlosen Nächten glitzert leuchtendes Plankton in der Bugwelle und gelegentlich schwimmt eine leuchtende Qualle vorbei. Wer bei der Nachtwache in den Himmel schaut, wird jede Nacht – ohne Ausnahme – mit Sternschnuppen belohnt.

Reiche Beute – Fische beißen auf der Atlantiküberquerung reichlich. ©Felix Hackenberg

Fischen auf dem Atlantik

Eine noch spannendere Abwechslung ist für mich das Angeln. Ab dem ersten Tag sind die Leinen im Wasser, doch Erfolg haben wir erst ein paar Tage später, nach dem entscheidenden Tipp eines überholenden Katamarans, „lila“ Köder zu verwenden. Kurz danach ist der erste, wunderbar gelb-blau-grün schimmernde Mahi Mahi an Bord. Im Laufe der Reise fangen wir so viel Fisch, dass wir jeden Tag davon essen können und die Angeln den größten Teil der Reise aus dem Wasser nehmen müssen, um nicht mehr zu fangen, als wir essen können. Das Highlight sind hier schließlich zwei Gelbflossenthunfische, die jeweils knapp 15 kg wiegen und köstliches, rotes Fleisch in Sushi-Qualität liefern.

Mit einer sehr einfachen Angelausstattung wird Fisch satt gefangen. ©Felix Hackenberg

Spektakulär sind die täglichen Sonnenuntergänge und je nachdem, welche Wache man erwischt, auch die Sonnenaufgänge. Das freie Sichtfeld um das ganze Schiff herum, das Fehlen anderer Farben und die fehlende Lichtverschmutzung lassen die Farben des Himmels besonders intensiv wirken. Der Himmel spiegelt sich im Wasser und färbt die Wolken, sodass die Welt gänzlich in die jeweilige Farbe des Tages getaucht wird.

Täglich kommen wir in den Genuss spektakulärer Sonnenauf- und -untergänge. ©Felix Hackenberg

Leer ist der atlantische Ozean überhaupt nicht. In den ersten Tagen werden wir von einigen anderen Ozeanüberquerern begleitet und tauschen uns immer wieder über Funk aus. Hierbei wird reger Gebrauch der DSC-Technik gemacht. Zwar werden die Begegnungen weniger, aber doch ist die längste Zeit ohne Sichtung eines anderen Schiffes nur fünf Tage. Container-Schiffe, Kreuzfahrer, IMOCA-Rennboote und Einhandsegler in winzigen Booten sorgen für interessante Begegnungen.

An der Muring vor St. Martin – der nahe Strand lockt sehr zu einem Landgang. ©Felix Hackenberg

Landfall in der Karibik – die ersten Lichter der neuen Welt

Und dann, nach genau 22 Tagen, ist Land in Sicht. Schon in der Nacht ergibt das Kartenstudium, dass wir die Karibikinsel Barbuda in der Nacht vom 22. auf den 23. Dezember passieren. Zwar außerhalb der Sichtweite, aber wahrscheinlich doch nah genug, um die Lichter der Insel am Nachthimmel zu sehen. Tatsächlich: In der Nachtwache sichte ich die ersten Lichtscheine, weil die über den Landmassen hängenden Wolken von ihnen angestrahlt werden. Kurz danach gesellen sich die Lichter von St. Nevis und Kitts hinzu, am frühen Morgen heißt es schließlich „Landfall“, als die Silhouette der niederländisch-französischen Insel St. Martin in Sicht kommt.

Die steilen, grünen Hänge heben sich immer deutlicher vom Horizont ab und kurz danach springt zum ersten Mal seit den Kanaren der Tiefenmesser an. Um eine Ansteuerung des Hafens von Road Town in den Jungferninseln im Dunkel der Nacht zu vermeiden, entscheiden wir uns, ein wenig Zeit mit der Erkundung der St. Martin vorgelagerten Insel Île Tintamarre zu verbringen und gehen dort an eine Muring. Ein Sprung ins Wasser, schwimmen an den Strand und ein richtiges Gefühl von „Ankommen“ erfüllt uns. Wir sind glücklich über die reibungslose Fahrt und stolz auf die vollbrachte Passage.

Nach der Erfrischung geht es an die letzte Etappe durch den Anguilla Channel zwischen St. Martin und Anguilla, eine letzte Nachtwache, nun in der karibischen See und nicht mehr auf dem Atlantik. Schließlich die Ansteuerung der Insel Tortola beim ersten Tageslicht. Um 06:40 Uhr machen wir an einer Muring fest und haben unsere Reise damit offiziell beendet. Nicht nur wir, sondern auch die See ist in festlicher Stimmung, denn wir werden mit dem bisher dramatischsten Sonnenaufgang belohnt. Nach 23 Tagen, 5 Stunden und 9 Minuten und 3.097 Seemeilen ist die Reise beendet. Job done!

Eine Postkarten-Insel mit weißem Strand und Palmen – erst wer über den Atlantik gesegelt ist, weiß solch eine mit jeder gesegelten Meile verdiente Schönheit richtig zu schätzen. ©Felix Hackenberg

Würde ich es wieder machen?

Viele der mitgebrachten Bücher wurden nicht einmal aufgeschlagen – und das, obwohl es kein Internet gab. Aber entgegen der naheliegenden Annahme ist auf unserem Törn keinerlei Langeweile aufgekommen. Um im Moment zu leben und einfach mal vollkommen abzuschalten, eignet sich ein Hochseetörn hervorragend. Man entspannt ohne schlechtes Gewissen – schließlich hat man mehr als genug Tage vor sich und nicht viel anderes zu tun. Für einen umtriebigen Menschen wie mich genau das Richtige, um „Urlaubsstress“ zu vermeiden.

Der letzte Sonnenaufgang des Törns im Hafen von Road Town, Tortola auf den Britischen Jungferninseln. ©Felix Hackenberg

Hochseesegeln ist eine Kunst, die nicht nur den Körper, sondern auch den Geist fordert, für mich persönlich die absolute Königsdisziplin des Segelns. Es ist ein Tanz auf den Wellen, eine endlose Reise der Selbsterkenntnis und des Lernens. Jede Welle, die gegen den Rumpf des Schiffes schlägt, jedes Lüftchen, das die Segel bläht, lehrt uns etwas Neues über die Natur, über das Leben und über uns selbst.

Das Meer – kein Platz für Langeweile

Das Meer ist ein Lehrer von unermesslicher Weisheit und Vielfalt. In seiner unendlichen Weite findet – wer interessiert ist und sucht – Lektionen in Geografie und Meteorologie. Außerdem erfährt man viel über die Geheimnisse der Meeresbiologie oder die Grundprinzipien der Physik, die das Schiff vorantreiben. Doch die Lehren des Meeres gehen weit über das Akademische hinaus. Das Meer lehrt uns Geduld, wenn der Wind nachlässt, Entschlossenheit, wenn die Wellen uns herausfordern, und Demut, wenn wir die gewaltige Kraft der Natur erleben und tausende Kilometer vom Land entfernt sind.

Auf hoher See werden wir zu Schülern des Lebens. Jeder Tag bringt neue Herausforderungen. Jeder Schaden, jedes Unwetter ist eine neue Prüfung unseres Mutes und unserer Fähigkeiten. Wir lernen, mit wenig auszukommen und dennoch das Maximum zu erreichen. Wir lernen auch, in der Stille der endlosen Wasserflächen unsere innere Stimme zu hören und bei Stürmen unsere eigene Stärke zu finden.

Das Hochseesegeln ist eine lebenslange Schule, in der wir nicht nur Navigatoren unserer Schiffe, sondern auch unseres Lebens werden. Es ist ein stetiger Prozess des Wachsens, des Entdeckens und des Überwindens. In dieser Königsdisziplin finde ich nicht nur Abenteuer und Herausforderungen, sondern auch eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration und der persönlichen Entwicklung.

Für mich ist deshalb klar: I’ll do it again!

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